Interpretation "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)" von Rainer Maria Rilke (Seite 3)

Der Tod als Meilenstein des Lebens

Die Chronologie von Maltes Vergangenheit lässt sich zwar nur unvollständig rekonstruieren, auffällig ist dabei aber, dass die zeitlichen Fixpunkte, an denen sich Maltes Kindheitserzählungen ausrichten lassen, durchweg Todesfälle sind oder Ereignisse, die unmittelbar mit einem Todesfall in Zusammenhang stehen.

Diese erzählten Todesfälle beginnen chronologisch mit dem Ableben Christine Brahes, die etwa 165 Jahre vor Maltes Pariser Zeit im zweiten Kindbett stirbt und noch 150 Jahre danach bei einem Familientreffen als Wiedergängerin erscheint (AZ 15).

Der nächste erwähnte Tod ist der von Maltes Urgroßmutter väterlicherseits, die 23 Jahre vor ihrem Sohn, Maltes Großvater, stirbt (AZ 08). Das lange, laute Sterben des Großvaters, der sich schließlich in das Sterbezimmer seiner Mutter bringen lässt, ist das Todesereignis, das Malte am ausführlichsten beschreibt; im Kontext dieser Beschreibung entwickelt sich auch die Idee eines jeder Person innewohnenden, individuellen Todes. Dieses Verständnis von Individualität sogar im Tod, oder anders ausgedrückt, ein eigener, persönlicher Tod als Teil eines eigenen, persönlichen Lebens ist bereits aus dem dritten Teil des Stunden-Buchs bekannt:

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.

Auf Großvaters Ableben folgt chronologisch der Tod von Ingeborg (AZ 28), die anlässlich eines Familientreffens nach ihrem Begräbnis selbst als (von ihrem Hund eindeutig erkannte) Wiedergängerin erscheint. Danach folgen kurz hintereinander die Tode von Maltes Mutter, Maltes Großmutter väterlicherseits (AZ 36) und schließlich Maltes Großvater väterlicherseits (AZ 08). Später sterben noch Maltes gleichaltriger Cousin Erik (AZ 35) und Maltes Vater (AZ 45), dieser aber bereits nach dem Verlust des Landgutes in seiner Stadtwohnung.

Malte bewegt sich kontinuierlich von diesen Toden fort: einige Zeit nach dem Tod seiner Mutter besucht er eine Adelsakademie, danach geht er irgendwann ins Ausland. Als sein Vater stirbt, kommt er deshalb zu spät, um ihn noch lebend anzutreffen. Die Jetzt-Zeit der Aufzeichnungen zeigt ihn ebenfalls im Ausland, diesmal in Paris, wo er bereits nach drei Wochen auch die letzten brieflichen Verbindungen zu seiner Vergangenheit einstellt.

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